Geschichte

Die Unsozial-Demokratie

Es war am 14. März 2003, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung medial wirksam und mit fester Stimme die Agenda 2010 verkündete. Und es war die für jedermann nachvollziehbare Abkehr vom bundesrepublikanischen Sozialstaat. Schröder wurde damit vom vermeintlich ungeliebten Arbeiterklässler zum „Genossen der Bosse“ und Rot-Grün ebnete den Weg zur politischen Einwegkonzeption, in der es völlig egal ist, welche Farbe fortan eine Partei, welche Farbmischung eine Koalition hat.

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Mit ein paar Jahren Abstand darf man sich durchaus daran erinnern, dass die Sozialdemokraten auf ihrem Sonderparteitag am 1. Juni 2003 mit über 80 Prozent für den Leitantrag des SPD-Bundesvorstandes gestimmt hatten, während Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen das Ergebnis zur Annahme des „Leitantrages Agenda 2010“ auf ihrem Sonderparteitag am 14./15. Juni 2003 mit etwa 90 prozentiger Mehrheit noch übertrafen. Und dies, obwohl den Delegierten die Folgen der Agenda 2010 durchaus bewusst gewesen sein müssen. Wie dem auch sei: Es kam parteisoldatischem DDR-Abstimmungsverhalten so ziemlich nahe.


 

Die gesellschaftlichen Folgen einzeln zu analysieren, würde diesen Artikel sprengen. Vielmehr geht es um die Frage: Warum zerstörte (und zerstört) die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie kalkuliert Deutschlands sozial gewachsenes Gefüge?

Rückblick: Schröder hatte kurz zuvor 2002 denkbar knapp die Bundestagswahl gewonnen. Der Sieg fiel so knapp aus, dass CSU-Kandidat Stoiber quasi öffentlich verkündete, er sei der Sieger des Wahlabends. Die erste Rot-grüne Legislatur war bis dahin schlicht eine Ernüchterung. Als passiver Betrachter der 1998 gewählten nachkohlschen „Wandelregierung“ konnte man den Eindruck gewinnen, nun haben sich alle Protagonisten in ihren Politämtern samt Vorzügen eingenistet. Das Land verharrte in Lauerstellung, doch einen wirklichen Aufbruch gab es nicht. Die Zahl der Arbeitslosen stieg und mit ihnen die Sozialausgaben. Es liegt die Vermutung nahe, dass Schröder mit der Agenda 2010 schlicht den befreienden Rundumschlag versuchte – doch warum?


 

Die Rettungsthese: Die Sozialdemokraten verloren in den kohlschen 80ern viele Mitglieder, blieben jedoch über der Marke von 900.000 Personen. Seit der deutschen Einheit erlitt die Partei starke Mitgliedereinbußen: Zwischen 1990 und 2008 hatte die SPD etwa 400.000 Mitglieder verloren; die Parteistärke dürfte aktuell bei etwa 500.000 liegen. Aufgrund der demografischen Entwicklung verschob sich dazu die Gewichtung innerhalb der Mitglieder. Bildeten früher Arbeiter und kleine Angestellte den Stamm der Sozialdemokratie, so sind es heute vor allem Beamte und Rentner. Der Rundumschlag 2010 belastet dieses Mitgliederklientel – gemessen am gesamten gesellschaftlichen Schaden – nur geringfügig.

Die Europathese: Das in den kommenden Jahren hinsichtlich der Agenda 2010 immer wieder auf Europa verwiesen wurde, schießt wie ein Pfeil am Apfel vorbei. Europäische Staats- und Regierungschefs hatten im Jahr 2000 auf einem Sondergipfel beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die Inhalte der Schröder-Agenda allerdings deckten sich jedoch nur begrenzt mit denen der EU-Agenda. Dennoch wird Deutschland in den letzten Jahren als „Europas Wirtschaftslokomotive“ kommuniziert, was die Wegbereiter von 2010 – die gravierenden sozialen Folgen außen vor lassend – zukünftig wieder regierungsfähig und ihren einstigen Kanzler zur historischen Ikone machen dürfte.

Die Psychothese: Die Psychologen Theodore Millon und Roger Davis meinen, manche Menschen haben in ihrer frühkindlichen Entwicklung unzureichende Liebe und Anerkennung von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen erhalten und leiden darunter oft ein Leben lang. Sie geben ihre Reaktionen auf die gemachten Entbehrungen schließlich an andere weiter. Sieht man sich die Biografien der damaligen Rot-grünen Regierungsmannschaft an, so finden sich sicher Schnittmengen zu diesem Thema.

Aprospos weitergeben: In ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 äußerte die frischgebackene Kanzlerin Merkel: „Ich möchte Kanzler Schröder ganz persönlich danken, dass er mit der Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, unsere Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen.“ Angela Merkel ist eine schwarz gefärbte Staffelstabträgerin, die das Objekt einfach weiterreicht. Garantiert.

Quellen: Jochen Müter – „Schröders kalkulierter Bruch“, Wikipedia, Privat

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